Von den Ascheschichten über der Glut: Sexualität in Dauerbeziehungen

Die Statistiken der Sexualtherapeuten in Deutschland zeigen: Das häufigste Problem, mit dem Paare heute zu ihnen kommen, ist sexuelle Lustlosigkeit.

 

Sie „tun es“ immer seltener

Vergleichsweise seltener geworden sind Erektionsstörungen, vorzeitiger Samenerguss, Scheidenkrämpfe, Anorgasmie und Ähnliches. Wenn sie »es tun«, klappt es also bei den deutschen Paaren heutzutage besser als noch in ihrer Elterngeneration. Aber: sie tun es immer seltener. Denn sie haben immer weniger Lust aufeinander. Woher kommt das? Wenn wir davon ausgehen, dass es sich dabei in der Mehrzahl um Paare handelt, die ihr Zusammenleben auf Dauer angelegt haben, könnte man vermuten, dass sich die Leidenschaft nicht mit einer Dauerbeziehung verträgt. Muss sich nicht notwendigerweise im Lauf der Zeit über der Glut eine dicke Ascheschicht ansammeln und diese zum Ersticken bringen? So hört man es immer wieder: Nach Jahren gemeinsamen Lebens könne es halt »nicht mehr so sein wie am Anfang«. Das will sagen: Es wird im Bett langweilig. Man scheint das fast wie ein Naturgesetz zu betrachten.

In früheren Zeiten hat man das einfach hingenommen, heute wird es mehr und mehr zum Problem. Dass sie keinen Spaß mehr daran hatten, haben die Frauen früherer Generationen als ihr Schicksal betrachtet — und manchmal waren sie auch ganz froh, wenn sie von ihren Männern diesbezüglich »in Ruhe gelassen« wurden. Und den Männern wiederum hat man es — gegen die offizielle Moral — nachgesehen, wenn sie anderswo Abwechslung vom Ehealltag suchten. Das hat den Frieden in der Ehe nicht grundsätzlich gefährdet, und beide Teile, Männer wie Frauen, konnten damit leben. Heute ist das anders geworden. Dass in der Ehe nach einiger Zeit nichts mehr läuft, wird zwar häufig als genauso selbstverständlich angenommen. Aber die Frauen akzeptieren die Doppelmoral früherer Zeiten nicht mehr und das bedeutet, dass sie gegen das Fremdgehen der Männer aufbegehren oder nun selbst die außerhalb suchen. Damit ist in unseren Ehen ein riesiges Konfliktpotenzial entstanden.

Der Wunsch nach sexueller Intensität verschwindet nicht …

Wenn ich nachzeichne, was ich in den Therapien über die Entwicklung der Sexualität von Paaren erfahre, stellt sich mir häufig folgender Verlauf dar: Zum Zeitpunkt des Kennenlernens und Verliebens wird die Sexualität intensiv miteinander gelebt und als befriedigend empfunden. Häufig ist sie sogar voller Leidenschaft oder sie entfaltet sich in dieser Beziehung zu voller Leidenschaft. »So wie mit ihm/ihr war es mit anderen vorher nie« — ist eine häufige Erinnerung aus dieser Zeit. Einen ersten Knick in der Kurve gibt es nicht selten, nachdem die beiden zusammengezogen sind. Vielleicht spürt auch nur einer von beiden, dass die Leidenschaft etwas abkühlt, auf jeden Fall redet man nicht darüber und hofft, dass es wieder anders wird. Wenn die beiden dann Kinder haben wollen und heiraten, gibt es häufig den zweiten und dramatischeren Abfall der Kurve. Nach dem ersten, und noch häufiger nach dem zweiten Kind verschlechtert sich die Sexualität erheblich. Die »Ursache« scheint häufig die Frau zu sein: Sie hat immer weniger Lust und schließlich gar keine mehr. Da sie es nicht mehr wie früher ihre Geschlechtsgenossinnen »über sich ergehen lässt«, sondern sich dann mehr oder weniger offen verweigert, bekommt der Mann damit ein massives Problem. Allerdings ist das so nicht immer der Fall. Bei heutigen jungen Männern ist zu beobachten, dass auch sie in dieser Zeit der Famlienphase häufiger die Lust verlieren.

Die Paare beginnen dann miteinander zu leben »wie Bruder und Schwester«

Wenn sich beide damit zufrieden geben könnten, wäre das weiter nicht schlimm. Aber der Wunsch nach sexueller Intensität verschwindet nicht, weder bei ihm noch bei ihr. In ihren Fantasien ist er lebendig, tobt sich da zuweilen sogar aus, richtet sich aber immer seltener auf den eigenen Partner. So sucht sich die Lust dann irgendwann den Weg zu einer oder einem anderen (heutzutage übrigens genauso häufig bei den Frauen wie bei den Männern). Dann steht sehr schnell die Ehe infrage und damit drohen all die schlimmen menschlichen und wirtschaftlichen Folgen, die eine Trennung mit sich bringt.

So oder ähnlich verläuft die Entwicklung häufig. Ist sie ein notwendiger Prozess? Ich glaube trotz der Häufigkeit: Nein. Wenn man den geschilderten Prozess nämlich analysiert, kann man recht genau die Bedingungen erkennen, die dafür verantwortlich sind, dass die Leidenschaft abnimmt. Diesen Bedingungen sind wir keineswegs hilflos ausgeliefert. Wir können sie beeinflussen, ja teilweise auch ganz ändern. Ob Sexualität intensiv erlebt wird oder nicht, hängt nicht nur mit dem »Funktionieren« der Sexualorgane zusammen. Die Sexualität ist auch mit den gesamten Lebensumständen des Paares »vernetzt«. Diese wirken auch auf die Sexualität und ihre Lebendigkeit ein, fördern sie entweder oder blockieren sie. Werfen wir auf unser »bundesdeutsches Normal-Paar« einen zweiten Blick, dann entdecken wir wesentliche Faktoren seiner Lebenssituation, die zum Ersterben der Leidenschaft beitragen. Umgekehrt heißt das: Ändern wir diese Faktoren, kann dies auch wieder zu ihrer Verlebendigung führen.

Herausforderung

Womit hängt es zusammen, dass die Leidenschaft häufig nach dem Zusammenziehen der Partner eine erste Abkühlung erfährt? Häufig ist mit dieser Veränderung der Lebenssituation eine Veränderung der Einstellung beider Partner zueinander zu beobachten: Früher hat jeder seine eigene Wohnung gehabt, sich selber versorgt und sich um sein Alltagsleben selber gekümmert. Jetzt, wo sie zusammenleben, fühlt sie sich plötzlich dafür verantwortlich, dass im Kühlschrank Butter, Käse und Jogurt vorhanden sind, während er ihr Vorwürfe macht, wenn etwas fehlt, statt es wie früher selbstverständlich selber zu besorgen. Was passiert hier? Sie ist offenbar ein Stückchen Mutter für ihn geworden, zuständig für die Versorgungsaufgaben, und er verhält sich wie der Junge, der sich zu Hause versorgen lässt. Damit bekommt ihre Beziehung einen Hauch von Mutter-Sohn-Verhältnis. Es entsteht wechselseitige Abhängigkeit — und die Erotik kühlt ab.

Hand in Hand damit geht, dass das Leben unter einem Dach mehr Sicherheit schafft. Sie haben jetzt ihr gemeinsames Nest. Er braucht sie nicht mehr zu erobern, sie braucht ihn nicht mehr zu locken. Sie geben ein Stück Unsicherheit auf, aber damit auch ein gewisses Quantum wechselseitiger Aufmerksamkeit und Wachheit für den anderen und sich selbst. Erotik braucht aber solche Aufmerksamkeit und Wachheit, und wir bringen sie auf, wenn es einen Schuss Unsicherheit und bleibender Fremdheit zwischen uns gibt, und das heißt, ein Stück Distanz voneinander. Wenn wir zu viel davon aufgeben, macht sich die Erotik davon.

Eine Prise Fremdheit als Würze

Aus dem Gesagten könnte man eine erste Grundregel für lebendige Sexualität in Dauerbeziehungen ableiten: Auch wenn in einer solchen Beziehung Nähe, Vertrautheit und Sicherheit wachsen, was natürlich und auch wünschenswert ist, ist es doch wichtig, dass Partner immer wieder für Distanz zueinander sorgen, indem sie ihre Eigenverantwortung und Selbstständigkeit, und damit ihre Individualität bewahren und weiterentwickeln. Natürlich soll er sich bei ihr und sie sich bei ihm auch einkuscheln dürfen wie ein Kind bei der Mutter/beim Vater. Aber die Grundlage muss sein — oder immer wieder hergestellt werden: Dass sie sich gegenüberstehen als erwachsener Mann und erwachsene Frau. Das hält die Neugier aufeinander wach und damit auch die Erotik.

Der zweite — meist schwerer wiegende — Einbruch bei der Sexualität kommt oft mit den Kindern, wenn aus dem Paar eine Familie wird. Hier spielt sehr häufig die dramatische Veränderung der Lebenssituation der Frau eine entscheidende Rolle. Einerseits ist es für jede junge Frau heute eine Selbstverständlichkeit, eine qualifizierte Ausbildung zu machen, einen Beruf auszuüben und ihr eigenes Geld zu verdienen. Andererseits ist unsere Gesellschaft noch immer sehr wenig auf berufstätige Frauen, die auch Mütter sind, eingestellt. Es gibt viel zu wenige Einrichtungen für Kinder vor dem Kindergartenalter und für außerschulische Kinderbetreuung, und von Männern wird in der Regel ein Engagement im Beruf erwartet, das ohne eine Frau für alles Übrige zu Hause nicht zu erbringen ist. Außerdem schwirrt in unseren Köpfen ein übermäßig hochstilisiertes Mutter-Ideal herum, das die Anforderungen an die Qualität des Mutterseins ins Unermessliche steigert.

Statusverlust als Ursache von Lustlosigkeit?

Das alles hat zur Folge, dass viele Frauen, die Kinder bekommen und kleine Kinder haben, ihren Beruf aufgeben oder stark reduzieren. Damit erleiden sie aber einen massiven Status-Verlust. Sie können ihre — vielleicht hoch qualifizierte — Ausbildung nicht mehr umsetzen und sie verlieren — je länger sie aus dem Beruf ausgestiegen sind, immer mehr — an Kompetenz. Sie verdienen kein Geld mehr oder nur noch ein »Taschengeld« und werden damit vom Mann abhängig. Sie verlieren auch den Großteil ihrer eigenen Beziehungen, weil sie ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen nicht mehr treffen, die früher einen wesentlichen Teil ihres sozialen Lebens ausgemacht haben. Damit entsteht — von den Männern oft unbemerkt oder ausgeblendet — ein starkes Beziehungsgefälle: Die Frauen fühlen sich — im Vergleich zu ihren Männern — »unten«, nicht mehr gleichwertig, nicht mehr als autonome, achtenswerte und attraktive Individuen. Leidenschaft und Erotik haben aber wesentlich damit zu tun, wie sie sich als Frau (und er sich als Mann) fühlt. Vielleicht nimmt das Verlangen nach Sexualität bei vielen Frauen vor allem nach dem zweiten Kind deshalb oft so rapide ab, weil damit ihre Aussicht, wieder in eine angesehene und interessante berufliche Position zu kommen, noch weiter in die Ferne rückt und vielleicht ganz am Horizont verschwindet.

So könnte man als zweite Grundregel für lebendige Sexualität in Dauerbeziehungen formulieren: Die Entscheidung, den Beruf wegen des Kindes oder der Kinder ganz oder teilweise aufzugeben, darf bei der Frau nicht aus einer resignativen Position heraus erfolgen (»Es geht halt nicht anders«): Die Frau muss das Gefühl behalten können, als gleichwertige Partnerin neben dem Mann zu stehen. Spielt dafür der Beruf eine wichtige Rolle, ist — gerade auch im Interesse einer lebendigen Sexualität — alles daran zu setzen, dass sie bald wieder in den Beruf einsteigen kann oder, wenn dies nicht möglich scheint, dass die Partner miteinander realistische Perspektiven entwickeln, wann und in welcher Form ein solcher Wiedereinstieg erfolgen soll.

Des Eros’ Tod: ienerinnen und brave Söhne

Für die Männer bedeutet das einerseits, dass sie ein solches Ziel von sich aus tatkräftig unterstützen und andererseits, dass sie sich auch bei hoher Arbeitsbelastung von Haushalt und Kindern nicht abmelden. Denn wenn die Frau das Gefühl hat, zur »Dienerin« des Mannes geworden zu sein, geht die Sexualität flöten. Was ist bei den jungen Männern los, die in dieser Zeit oft ebenfalls die Lust verlieren? Ich beobachte recht häufig, dass sie sich beruflich übernehmen. Sie setzen sich unter einen derartigen Leistungs- und Erfolgsdruck, dass sie aus brennen (»Burn-out Syndrom«). Das hat sicher auch mit den heutigen Arbeitsbedingungen zu tun. Aber es wird vor allem durch »innere Antreiber« so kräftezehrend. Der Vorgesetzte, die Firma, der Betrieb werden für viele Männer eine Art Eltern-Instanz, deren Anerkennung als »brave Söhne« sie sich »erarbeiten« wollen. Dadurch verausgaben sie sich so, dass für die Lust nichts mehr übrig bleibt. Dem entspricht in der Familie dann häufig das Pflichtbewusstsein der Frauen, die wie ihre Mütter »perfekte Mütter« sein wollen und — weil sie dann vielleicht auch noch berufstätig sind — nur noch atemlos durch das Leben hetzen. So sind beide, Mann und Frau, in ihrem Alltagsleben voller Anstrengung immer hinter irgendwelchen Zielen her, an deren Erreichung sie ihren Selbstwert messen. Der Eros ist aber ein verspieltes Kind. Mit Flügeln, Pfeil und Bogen stellten ihn die Alten dar! Sexualität braucht Muße. Sie entfaltet sich am schönsten als zweckloses, genussreiches Spiel. Bei zu viel Druck und Zielorientierung fliegt der Erosknabe davon. Selbst dann, wenn es körperlich noch »funktioniert«, wird es freudlos und deshalb — häufig für die Frauen — nicht mehr attraktiv.

Damit sind wir bei der dritten Grundregel angelangt: Zu viel Pflicht und Arbeit, zu viel Ziel und Leistungsorientierung töten das Spiel der Lust. Um die Erotik und Sexualität wieder zu beleben, braucht es zur Pflicht das Gegengewicht der Muße. Es braucht im Zusammenleben Räume und Zeiten, die ganz allgemein, nicht nur im sexuellen Sinn, dem freien Spiel der Kräfte, dem Genuss, dem Leben im Augenblick vorbehalten sind. Dann behält auch eine lebendige Sexualität ihren Platz — oder findet ihn wieder. Das heißt: Sexualität ist Teil einer umfassenderen Beziehungskultur. Dazu gehört neben der Leistung die Muße, neben der Arbeit das Feiern, neben der Pflicht das Lustvolle in einem ganz allgemeinen, nicht nur sexuellen Sinn.

Die Eigenständigkeit, die Distanz zum anderen schafft, die Gleichwertigkeit der Partner, die einander gegenüberstehen lässt ohne Über- oder Unterordnung, und der Raum für Muße und Genuss ganz allgemein: Damit sind drei wesentliche Bedingungen umschrieben, die Sexualität auch in Dauerbeziehungen lebendig halten helfen. Freilich sind sie in unserer heutigen Gesellschaft nicht leicht herzustellen, aber dass es unmöglich wäre, kann wohl niemand behaupten. Es braucht dazu allerdings eines: dass wir uns entschlossen haben, unser Leben und unsere Paarbeziehung in die Hand zu nehmen und aktiv zu gestalten. Darauf läuft es bei dem bisher Gesagten ja immer wieder hinaus: bewusste Gestaltung. »Von selber« werden Paarbeziehungen schlechter, »von selber« schläft die Sexualität ein, auch wenn mit den »körperlichen Funktionen« alles in Ordnung ist.

Sexualität gestalten

Diese in sich »nicht sexuellen Bedingungen« scheinen mir für eine lebendige Sexualität am wichtigsten zu sein. Darüber hinaus kann man freilich noch vielerlei Hinweise geben, die die Sexualität direkt betreffen. Ich will mich abschließend auf zwei beschränken. Zunächst: Wenn in einer Beziehung die Lust verschwindet, kann es auch daran liegen, dass man im Alltag allem anderen Vorrang vor der Sexualität einräumt und es so »einfach nicht mehr dazu kommt«. Da kann es nützlich sein, bestimmte Zeiten dafür ausdrücklich »einzuplanen« und »einzuhalten«. »Schrecklich!«, höre ich jetzt manchen rufen. »Wo bleibt da noch die Spontaneität? !« — Erinnern Sie sich daran, wie Sie in der Zeit der Verliebtheit ihre Stelldicheins — und damit auch ihre sexuellen Begegnungen — strategisch geplant und eingefädelt haben! Es ist nicht »von selbst« dazu gekommen! Hat das der Liebe geschadet? Ich glaube nicht, im Gegenteil! Sie haben dadurch den Raum geschaffen, in dem die Lust sich entfalten konnte. Die Gefahr ist nicht das Planen ausgegrenzter Zeiten und Räume für die sexuelle Begegnung, die Gefahr ist, dass wir im Alltagstrott darauf vergessen!

Ausgegrenzte und dafür reservierte Zeiten und Räume geben die Möglichkeit, dass »es« überhaupt wieder stattfindet — und dann kann es auch wieder schön und lustvoll sein, selbst dann, wenn es uns vorher nicht danach gedrängt hat. Der Appetit kommt ja bekanntlich manchmal erst beim Essen. Außerdem: Solche ausdrücklich eingeplanten Zeiten und Räume schaffen Gelegenheit, Sexualität und Erotik wieder bewusst zu gestalten. Man hat hier Freiraum und Muße zu experimentieren und Neues auszuprobieren. Vielleicht bleibt es dann auch manchmal nur bei Berührung, Liebkosung, Hautkontakt. Aber das muss kein Fehler sein. Denn damit verbreitert sich das Spektrum der körperlich-lustvollen Begegnungsmöglichkeiten manchmal erheblich, und die Erotik wird viel verzweigter und abwechslungsreicher als die häufig eingefahrene Einbahnstraße in Richtung Orgasmus.

Der zweite Hinweis betrifft unmittelbar diese »Einbahnstraße«: Bei länger zusammenlebenden Paaren besteht die Gefahr einer »Kompromissbildung«. Das heißt: Weil sie nicht mehr lebendig ihre Wünsche und Bedürfnisse austauschen, einigen sie sich — wortlos — auf den »kleinsten gemeinsamen Nenner« ihrer Sexualität: Schmalspurig läuft immer das Gleiche ab, mit immer weniger Variation und Flexibilität. Das wird dann allerdings bald langweilig und die Lust erstirbt. Was außerhalb dieses »Kompromisses« sonst noch in den beiden lebendig ist und in ihren Fantasien, ihrer Wunschwelt, ihren Träumen herumgeistert, das bleibt »draußen«. Davon erfährt der Partner nichts. Und je länger man darüber nicht redet, desto höher werden die Schamschranken voreinander. So lassen sie sich als Paar sexuell verkümmern, obwohl in jedem von beiden eine reiche und vielfältige Bilderwelt voller Möglichkeiten zu finden wäre (was sie freilich nicht immer wahrhaben wollen).

Wieder neugierig aufeinander werden

Manchmal kann es sehr wirksam sein, die Schamschranken hier abzubauen und einander diese »verborgenen Welten« zu zeigen: Ich erzähle dir meine sexuellen Fantasien und Wunschbilder — und zwar in aller Farbigkeit und Detailgenauigkeit, und du erzählst mir die deinen. So erschließe ich dir meine verborgene sexuelle Welt und du erschließt mir die deine. Das kann in der Folge zu einem stürmischen Aufbruch aus der sexuellen Langweile führen! Oder, wenn wir das immer wieder »üben«, kann es sein, dass wir in die Lustlosigkeit erst gar nicht hineinkommen! Denn sexuelle Fantasien wandeln sich mit der eigenen individuellen Entwicklung, und so gibt es immer wieder Neues zu erfahren und zu erzählen! Dabei kommt es — wohlgemerkt — nicht darauf an, ob und dass wir diese Fantasien alle in die Realität umsetzen oder gegenseitig alle vorhandenen Wünsche erfüllen. Das würde gar nicht möglich sein, ist aber auch gar nicht angestrebt. Das Wesentliche ist etwas anderes. Durch diesen Austausch wird deutlich: Auch im Sexuellen bin ich ein eigenständiges Wesen mit eigenen Fantasien und Wünschen, und bist du ein eigenständiges Wesen mit eigenen Fantasien und Wünschen! Die gegenseitige Überanpassung wird aufgebrochen oder überhaupt vermieden. Ich lerne dich und du lernst mich neu kennen und entdecken. Wir werden wieder neugierig und kriegen wieder Lust aufeinander!

Resümee

Man kann also resümieren: Sexuelle Lustlosigkeit stellt sich umso eher ein, je mehr wir im Lauf unseres Zusammenlebens aufhören, uns als eigenständige, autonome Wesen weiterzuentwickeln. Übermäßige Anpassung — an andere Menschen, an Aufgaben, Pflichten und an Normen — ist der Hauptfeind der Lust. Die Dauer als solche ist es also nicht. Freilich: Mit der Dauer wächst die Gefahr, dass wir uns an alles Mögliche zu sehr anpassen. Dem sollten wir — im Interesse der sexuellen Lust — entgegensteuern.

Hans Jellouschek